Mit einer menschlichen Zellkultur im Reagenzglas lassen sich die komplexen Wechselwirkungen im menschlichen Organismus nicht simulieren. Und anhand eines Tieres lassen sich zwar komplexe Wechselwirkungen im Organismus untersuchen, jedoch ist dieser tierisch und nicht menschlich. Damit lassen sich Ergebnisse nur begrenzt auf den Menschen übertragen. Aus dieser Problemlage resultiert die Idee, einen menschlichen Organismus auf einem Chip zu simulieren, anhand dessen die Wirkung von Medikamenten und Chemikalien untersucht werden kann. Zu den Pionieren bei der Entwicklung eines solchen „human-on-a-chip“ gehört das Berliner Unternehmen TissUse GmbH.

Die Entwicklung eines Menschen auf dem Chip ist inzwischen weit vorangeschritten. Im Jahr 2012 hat das Forscherteam um Uwe Marx den ersten Doppel-Organ-Chip präsentiert, 2014 wurde der erste Vier-Organ-Chip fertiggestellt. Immer mehr Organe werden miteinander kombiniert, wobei für die Simulation eines ganzen Menschen die Kombination von zehn oder elf Organen erforderlich ist. Ein solch umfangreicher Chip ist zwar bereits entwickelt worden, wird aber noch getestet. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass ein Multi-Organ-Chip wohl nie den menschlichen Organismus in Gänze simulieren kann. Das hängt zum einen damit zusammen, dass jeder menschliche Körper äußerst komplex und dazu auch einzigartig ist. Zum anderen werden sich mit einem Multi-Organ-Chip wohl nie Gefühle und die körperlichen Reaktionen auf Gefühle simulieren lassen.

Im realen Organismus durchläuft ein Stoff den Körper. Nachdem die Substanz über den Mund in den Körper gelangt und durch die Magen- bzw. Darmschleimhaut aufgenommen worden ist, gelangt sie über das Pfortadersystem in die Leber und wird hier verstoffwechselt. Ein Teil ist zur Ausscheidung vorgesehen, d. h. gelangt gar nicht zum Zielorgan. Der „Rest“ gelangt über die Lebervene wieder in den Blutkreislauf und wird zum Zielorgan weitertransportiert. Der Leber kommt im menschlichen Organismus eine besondere Rolle zu, weil sie eine Substanz entgiften oder aber auch erst giftig machen kann. Diesen Stoffkreislauf und die Wirkung einer Substanz gilt es mittels der Multi-Organ-Chips zu simulieren.

Die Multi-Organ-Chips haben die Größe eines kleinen Smartphones. Sie bestehen aus einer Plexiglasplatte mit einer dünnen Silikonschicht und einer Adapterplatte, auf der Behälter installiert sind. Bei diesen Behältern handelt es sich um sogenannte Bioreaktoren, in denen beispielsweise von menschlichen Spenderinnen und Spendern stammende Zellen von Organen kultiviert und zu Mini-Organen herangezüchtet werden. Diese sind hunderttausendfach verkleinert, also nicht mit bloßem Auge, sondern nur unter dem Mikroskop zu erkennen. Diese winzigen dreidimensionalen Organmodelle sind über einen künstlichen Kreislauf in der Silikonschicht miteinander verbunden. In haarfeinen Schläuchen fließt eine blutähnliche Nährstofflösung, angetrieben durch eine Pumpe, die hier die Aufgabe des Herzens übernimmt. An der Unterseite der Plexiglasplatte ist eine batteriebetriebene Heizung angebracht, die das Organmodell bei konstanten 37 Grad Celsius hält. Das Vier-Organ-Modell enthält im Miniaturformat Darm, Leber, Haut und Niere. Bei einem Doppel-Organ-Chip können verschiedene Organe – zusätzlich zu den genannten vier Organen auch Haar und Gehirn – miteinander kombiniert werden, wobei die Leber wegen ihrer besonderen Bedeutung beim Stoffwechsel besonders häufig Verwendung findet.

Die Herausforderung besteht darin, den künstlichen menschlichen Organismus bis ins Detail dem echten anzupassen. Dazu gehört auch, dass die Mini-Organe dem gleichen mechanischen Stress ausgesetzt werden: Bei dem Darm beispielsweise sind es die peristaltischen Bewegungen (= rhythmischen Kontraktionswellen des Hohlorgans), bei der Haut ist es die Schuppung und beim Knochen die Last des Körpergewichts. Es hat das Forscherteam einige Mühen gekostet, die Zusammensetzung der Nährstofflösung derjenigen des Blutes anzupassen. In Zukunft sollen echte Blutgefäße die Multi-Organ-Chips durchziehen. Pionierarbeit leistet hier Heike Walles vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik. Der Wissenschaftlerin ist es bereits gelungen, ein Gerüst mit Endothelzellen zu besiedeln. Solche Zellen bilden die innere Wandschicht in Blutgefäßen. In einem nächsten Schritt müssen noch Kapillaren in die Gewebe hineinsprießen. So könnte statt Nährmedium in Zukunft Blut fließen, gebildet durch Knochenmarkzellen in einem Multi-Organ-Chip.i

i Vgl. https://www.tissuse.com; http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/44162/Der-Mensch-auf-einem-Chip (inzwischen entfernt); https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/multi-organ-chip-soll-medikamenten-tests-sicherer-machen.html ; http://www.invitrojobs.com/index.php/de/forschung-methoden/arbeitsgruppe-im-portrait/item/1668-arbeitsgruppe-im-portrait-tissuse-gmbh ; http://www.laborpraxis.vogel.de/bioanalytik-pharmaanalytik/articles/489015/ (jeweils 05.11.2016).