In Deutschland ist die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 deutlich gesunken. Verstärkt wird nach Wegen gesucht, wie die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge gesenkt werden kann. Die wirksamste und humanste Lösung ist die Bekämpfung der Fluchtursachen.

Allerdings ist die Bekämpfung der Fluchtursachen leichter gesagt als getan. Die Fluchtursachen sind nämlich komplex und wir sind nur zum Teil für sie verantwortlich. Der andere Teil der Verantwortung liegt bei den anderen Staaten und speziell auch bei den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Das bedeutet, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen nur zum Teil in unserer Hand liegt und auch von den Herkunftsländern der Flüchtlinge in Angriff genommen werden muss. Dass dies nicht oder nur unzureichend geschieht, liegt in verschiedenen Schwierigkeiten innerhalb und außerhalb Deutschlands begründet.

Steigende Flüchtlingszahlen

Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen müssen, war noch nie so hoch wie heute. Laut dem Global Trends Report 2023 vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) waren Ende 2023 weltweit 117,3 Millionen Menschen auf der Flucht – und somit 8,8 Millionen Menschen (oder 8 %) mehr als noch Ende 2022. Eine Verbesserung sei nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Zahl der weltweit Vertriebenen steige weiter. 2023 waren die fünf Hauptherkunftsländer der Flüchtlinge Afghanistan (6,4 Mio.), Syrien (6,4 Mio.), Venezuela (6,1 Mio.), Ukraine (6,0 Mio.) und Sudan (1,5 Mio).i

Angesichts der ständig steigenden Flüchtlingszahlen und des steigenden Drucks der Flüchtlingsströme auch auf Europa stellt sich dringend die Frage, wie man diese Ursachen von Flucht und irregulärer Migration wirksam mindern kann. Antworten auf diese Frage hat die von der Bundesregierung im Juli 2019 eingesetzte Fachkommission Fluchtursachen gesucht. Nach anderthalb Jahren intensiver Analyse hat die Kommission der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag ihre Ergebnisse am 18. Mai 2021 in einem Bericht vorgestellt.ii Der Bericht bildet den Kern der folgenden Ausführungen.

Fluchtursachen sind komplex

Wenn wir uns mit den Fluchtursachen befassen, dann müssen wir uns bewusst machen, dass wir es meist mit komplexen Zusammenhängen zu tun haben. Es kann sich zwar durchaus ein entscheidender Fluchtgrund ausmachen lassen, wie beispielsweise der Bürgerkrieg in Syrien oder der Krieg in der Ukraine, jedoch hat dieser gewöhnlich eine Vorgeschichte und es sind verschiedene Aspekte zu beachten, die miteinander zusammenhängen. Wir müssen also die direkten Auslöser von Flucht und die indirekten Ursachen, die den Hintergrund der direkten Auslöser bilden, unterscheiden.

Eine eindeutige Hierarchie der Fluchtursachen gibt es nicht. Das bedeutet zum einen, dass die Zusammenhänge der Fluchtursachen so eng und komplex sind, dass nicht eine Hauptursache in den Vordergrund gestellt werden sollte. Zum anderen bedeutet das aber auch, dass es keine eindeutige Reihenfolge der Fluchtursachen gibt. Die verschiedenen Fluchtursachen bedingen und verstärken sich gegenseitig.

Bewaffnete Konflikte

Viele Fluchtbewegungen werden durch gewaltsame Konflikte ausgelöst. Zu denen gehören zunächst einmal die Kriege im klassischen Sinn, nämlich die Kriege zwischen zwei Staaten. Zunehmend spielen aber auch innerstaatliche Konflikte eine Rolle, zu denen bewaffnete Aufstände und Bürgerkriege gehören. An vielen gewaltsamen Konflikten sind nicht-staatliche Akteure beteiligt, zu denen Milizen, Banden und Drogenkartelle gehören.

Gewaltsame Konflikte sind oft von grausamen Handlungen geprägt, mit denen zielgerichtet und schwerwiegend gegen Menschenrechte und Völkerrecht verstoßen wird. Ziel dieser Handlungen ist es, den Gegner einzuschüchtern und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu zerstören.

Verfolgung

Verfolgung hat viele verschiedene Gesichter: Es kann sich um politische Verfolgung handeln, bei der ein Mensch wegen einer bestimmten politischen Ansicht verfolgt wird. Weit verbreitet ist aber auch Verfolgung, die religiös oder ethnisch motiviert ist. Des Weiteren gibt es geschlechtsspezifische Verfolgung, die meist Frauen oder diverse Menschen trifft. So sind Frauen in manchen Ländern Vergewaltigungen, Genitalverstümmelungen, sowie erzwungenen Sterilisierungen, Verheiratungen und Abtreibungen unterworfen. Diverse Menschen lassen sich nicht dem traditionellen Schema Mann – Frau zuordnen und können deswegen als anormal betrachtet und ausgegrenzt oder sogar verfolgt werden. Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die nicht der heterosexuellen Norm entspricht, bei der Frau und Mann miteinander verkehren, können als pervers gebrandmarkt werden und den Hass auf sich ziehen. In manchen Ländern droht beispielsweise schwulen und lesbischen Menschen die Todesstrafe.

Versagen von Regierungen und staatlichen Institutionen

Eigentlich sollen Regierungen und staatliche Institutionen für eine gute Regierungsführung sorgen und die Menschenrechte und das Völkerrecht beachten. Gesellschaftliche Konflikte sollten sie gewaltfrei lösen. Politische Stabilität beruht wesentlich auf der Akzeptanz des Staates und seiner Institutionen. In vielen Herkunftsländern der Flüchtlinge ist der Staat jedoch schwach und vom Zerfall bedroht. Mancherorts sind Staatsoberhäupter durch Putsch oder Wahlmanipulation an die Macht gekommen und ändern eigenmächtig die Verfassung, um Amtszeitbeschränkungen zu umgehen oder sich mehr Macht zu verschaffen. Solchen Regierungen fehlt es an Legitimität.

Ob Menschen in ihrem Heimatland bleiben oder nicht, hängt in hohem Maße davon ab, ob sie für sich wirtschaftliche uns soziale Perspektiven sehen. Arbeitslosigkeit sowie geringe und unsichere Arbeitsmöglichkeiten bieten den Nährboden für soziale Unruhen. Vielerorts ist die grassierende Korruption ein Problem. Sie macht wenige Straftäter reich, einen großen Teil der Bevölkerung jedoch arm. Wenn nichts ohne Beziehungen und Bestechungsgelder läuft, dann werden die Demokratie, wirtschaftliche Entwicklung, das Dienstleistungs- und Sozialwesen und die Umwelt erheblich geschädigt. Letztendlich geht das Vertrauen der geschädigten Bürger in den Staat und seine Institutionen verloren und der Verdruss steigt. In vielen Ländern herrschen sehr ungleiche Lebensbedingungen: Wenigen reichen Menschen stehen viele arme Menschen gegenüber. Auf dem Land herrschen oft schlechtere Lebensbedingungen als in der Stadt und es kommt zur Landflucht. Diese wiederum führt zu einem schnellen, unkoordinierten Anwachsen der Städte und insbesondere auch der Armenviertel. So wird oft die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt enttäuscht, was zu einem Anstieg von Frust und Kriminalität führt.

Demographischer Druck

Global gesehen wächst die Bevölkerung seit Jahrzehnten erheblich an. Dieses Mehr an Menschen führt dazu, dass ein Staat weltweit mehr Gewicht erlangt, weil jeder Einwohner ein potenzieller Soldat oder Konsument ist und somit die militärische Stärke größer wird und die Wirtschaft größeres Wachstumspotenzial bekommt. Mit dem Bevölkerungszuwachs steigt allerdings auch die Konkurrenz um Wasser, Land, Nahrung, Arbeitsplätze oder um den Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Damit steigt auch die Gefahr von Konflikten.

Bevölkerungswachstum ist kein Fluchtgrund im eigentlichen Sinne. Wenn jedoch die Lebensperspektiven der Menschen durch die negativen Folgen verringert werden, dann führt das zu einer verstärkten Neigung, das Heimatland zu verlassen und anderswo das Glück zu versuchen. Insofern kann es zu einem Treiber der Migration werden. Ob es das auch tatsächlich wird, hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab.

Umweltzerstörung und Klimawandel

Wenn wegen des steigenden Meeresspiegels aufgrund der Klimaerwärmung Atolle im Ozean versinken, dann führt das zwangsläufig zu Migration. Das ist dann eindeutig ein Fluchtgrund. Solche eindeutigen Fälle sind aber selten. Meist wirken Umweltzerstörung und Klimawandel indirekt als Migrationsverstärker. Das gilt zum Beispiel dann, wenn ein ehemals fischreicher See vergiftet wird oder austrocknet. Dann fällt für die Fischer und alle mit der Fischerei verbundenen Einkommenszweige die Einkommensquelle weg. Allerdings führt das nicht zwangsläufig zu Migration, sondern nur dann, wenn es keine weiteren Erwerbsmöglichkeiten gibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu sozialen Konflikten kommt, ist jedoch groß. So kann beispielsweise ein Unternehmen, das das Wasser vergiftet, mittels Bestechungsgeldern an die Niederlassungs- und Produktionserlaubnis gekommen sein. Auch kann die Vergabe der Arbeitsplätzen nur an eine bestimmte Volksgruppe oder an Günstlinge oder Verwandte des lokalen Machthabers erfolgen. Sobald bezüglich der Arbeitsplätze und Unternehmensgewinne soziale Ungerechtigkeiten im Spiel sind, werden befeuert. Wenn dann ein gewalttätiger Konflikt ausbricht und Menschen fliehen, dann erscheint der gewalttätige Konflikt als Fluchtgrund. Tatsächlich ist dieser jedoch durch verschiedene, miteinander verwobene Faktoren verursacht. Einer der Faktoren ist in diesem Fall die Vergiftung des Wassers.

Die Klimaerwärmung war bisher ein eher untergeordneter Fluchtgrund. In dem Maße, wie sie fortschreitet und sich die Folgen verstärken, nimmt ihre Bedeutung zu.

Auch Erdbeben, Dürren, Überschwemmungen oder Wirbelstürme können dazu führen, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Die Häufigkeit und Stärke von Extremwetterereignissen nimmt aufgrund der Klimaerwärmung zu, wobei auch bereits erfolgte Umweltzerstörung eine Rolle spielt. Beispielsweise rutscht ein entwaldeter Berghang bei Starkregen eher ab als ein bewaldeter Berghang.

Arme Länder leiden unter dem Klimawandel stärker als reiche. In armen Ländern arbeiten mehr Menschen in der besonders betroffenen Landwirtschaft und es gibt weniger Arbeitsplätze, die verlorene ersetzen können. Auch fehlt es den armen Ländern oft an der nötigen Infrastruktur wie beispielsweise der leistungsfähigen Kanalisation, die große Regenmengen aufnehmen kann. Außerdem können Schutzmaßnahmen nicht bezahlt werden.

Hunger

Eng mit dem Klimawandel und kriegerischen Auseinandersetzungen verknüpft ist der Hunger, der ebenfalls einen bedeutenden Fluchtgrund darstellt. Der Klimawandel führt vermehrt zu Dürren und Konflikten um verbleibende Wasserressourcen.

Welche Auswirkungen ein Krieg auf die Ernährungssituation weltweit haben kann, hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine deutlich vor Augen geführt. Fast ein Drittel des global gehandelten Weizens sowie rund 60 % des Sonnenblumenöls und 15 % der Maislieferungen kamen im Jahr 2022 aus Russland und der Ukraine. Aufgrund des Krieges stockten die Exporte und in der Ukraine kam es zu erheblichen Produktionsausfällen.iii

Bekämpfung von Fluchtursachen

Nach Ansicht der Fachkommission Fluchtursachen sollten die Bundesregierung und der Bundestag eng aufeinander abgestimmte Maßnahmen in fünf Handlungsfeldern ergreifen:

1. Krisen vorbeugen und Konflikte bewältigen

2. Lebensgrundlagen sichern und Entwicklungsperspektiven eröffnen

3. Den Klimawandel aufhalten und seine Auswirkungen solidarisch bewältigen

4. Flüchtlinge, Vertriebene und Aufnahmeländer unterstützen

5. Deutsche und europäische Flucht- und Migrationspolitik menschlich und kohärent gestalten

Es ist wichtig, die Fluchtursachen zu bekämpfen, jedoch gestaltet sich dies in der Praxis schwierig. Die Schwierigkeiten liegen zum einen in Deutschland, zum anderen aber auch außerhalb Deutschlands, zum Teil in den Fluchtländern selbst.

Die Schwierigkeiten innerhalb Deutschlands sind:

– Die Zusammenhänge sind komplex und schwer zu durchschauen. Sie sind vielen Menschen nicht bekannt oder sie sind zwar bekannt, werden aber nicht verinnerlicht.

– Die Wirtschaft ist auf Konsum und ständigem Wachstum aufgebaut. Im Durchschnitt ist der Lebensstandard vergleichsweise hoch und es ist das Ziel, den hohen Lebensstandard zu halten. Im Hinblick auf Handelsverträge hat dies beispielsweise zur Folge, dass sie so abgeschlossen werden, dass sie nach Möglichkeit die eigene Wirtschaft stärken. Faire Handelsverträge, die anderswo die Lebensgrundlagen sichern und Entwicklungsperspektiven eröffnen, können für die eigene Wirtschaft Nachteile bringen und erscheinen somit unattraktiv.

– Politiker sind daran interessiert, wiedergewählt zu werden. Das bedeutet, dass sie vor unpopulären Entscheidungen zurückschrecken.

Die Schwierigkeiten außerhalb Deutschlands sind:

– Bundesregierung und Bundestag sind nur ein Akteur neben vielen anderen. Selbst wenn Deutschland konsequent die Fluchtursachen angeht, heißt das noch lange nicht, dass dies auch andere Länder tun.

i Vgl. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/global-trends-report-2023.pdf ; https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen (jeweils aufgerufen am 25.08.2024).

ii Vgl. https://www.bmz.de/de/themen/fachkommission-fluchtursachen . Die Webpräsenz der Kommission Fluchtursachen findet sich hier: https://www.fachkommission-fluchtursachen.de/start (jeweils aufgerufen am 25.08.2024). Von der Webpräsenz kann der Bericht der Fachkommission mit dem Titel „Krisen vorbeugen, Perspektiven schaffen, Menschen schützen“ heruntergeladen werden.

iii Vgl. Mathias Mogge, Hunger und Flucht, R.-U. Beck, K. Töpfer, A. Zahrnt (Hrsg.), Ursachen bekämpfen, Flüchtlinge schützen. Plädoyer für eine humane Politik, München 2022, 26-31. Der Zusammenhang von Klimakatastrophen und Kriegen mit Hunger im Mittleren Orient wird ausführlich in Moyen-Orient 61 (2024), 15-75 beleuchtet. Die Auswirkungen der Klimaerwärmung in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Bevölkerungswachstum und geopolitischen Ereignissen im Westen Afrikas – speziell im Senegal – nimmt Antonio Ricci, Siccità e migrazioni: il caso Senegal, Limes 11/2024, 275-283 in den Blick.