Von vielen Menschen in Deutschland und auch anderswo in der Europäischen Union (EU) wird die Zahl der Migranten und speziell auch der Flüchtlinge als zu hoch empfunden. Daher, so die Forderung, sollten die Migranten möglichst in der Nähe ihrer Heimat aufgenommen werden. Diese Forderungen werfen die Frage auf, warum Flüchtlinge beispielsweise aus dem Nahen Osten überhaupt das weit entfernte Europa anvisieren und nicht in der Nähe der Heimat bleiben. Wäre es nicht viel sinnvoller, in einem Nachbarland des Herkunftslandes Zuflucht zu suchen?
Wenn Menschen aus einem Land fliehen, dann liegt es zunächst einmal nicht nahe, sich auf die weite Reise nach Europa zu machen. Im Normalfall wollen die Menschen in ihrer Heimat bleiben, weil sie dort aufgewachsen sind, familiäre Bande und Freunde haben, mit der Lebensweise vertraut sind und sie sich dort eine berufliche Existenz aufgebaut haben. Wenn sie doch freiwillig oder gezwungenermaßen in die Ferne gehen, dann hat das Gründe. Dabei ist zwischen Gründen zu unterscheiden, die einen Verbleib im Herkunftsland oder einem Nachbarland des Herkunftslandes nicht erstrebenswert erscheinen lassen (Push-Faktoren), und Gründen, die einen anderen Staat anziehend machen (Pull-Faktoren).
Wenn sich ein Flüchtling auf die weite Reise nach Europa macht, geschieht das, um dort Zuflucht zu finden. Im Normalfall kann die Reise nicht auf legalem Weg erfolgen. Den Flüchtlingen fehlen gewöhnlich die nötigen Ausweisdokumente, Visa und Arbeitserlaubnisse, so dass sie gezwungen sind, Länder illegal zu durchqueren und schließlich auch illegal das Zielland zu betreten. Die illegale Reise lässt sich aus eigener Kraft kaum bewältigen, so dass die Flüchtlinge auf Helfer angewiesen sind. Dabei ist zwischen freundschaftlich und solidarisch gesinnten Fluchthelfern, geschäftstüchtigen Schleusern und kriminellen, auf Ausbeutung fixierten Schleusern zu unterscheiden.
Die Gründe für die Flucht nach Europa
Im Rahmen von Umfragen in Jordanien, dem Libanon, Ägypten und Irak wurden seitens des Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) 2015 sieben Faktoren ausgemacht werden, weshalb Menschen nach Europa fliehen:
– Hoffnungslosigkeit
– Hohe Lebenskosten und steigende Armut
– Wenig Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu sichern
– Unterfinanzierte Hilfsprogramme
– Schwierigkeiten, den rechtmäßigen Aufenthalt zu verlängern
– Wenige Bildungsmöglichkeiten
– Unsicherheit im Iraki
Bei diesen Gründen handelt es sich um sogenannte Push-Faktoren, also um Faktoren, die einen Verbleib im Herkunftsland oder in einem dem Herkunftsland benachbarten Land als nicht erstrebenswert erscheinen und Menschen nach besseren Lebensorten suchen lassen.
Die Auswahl von Zielstaaten
Bei der Diskussion darüber, warum viele Flüchtlinge gerade Deutschland als Zielland gewählt haben und wählen, wird gerne auf die im Vergleich zu anderen Staaten hohen Sozialleistungen hingewiesen. Inwiefern Sozialleistungen einen anziehenden Faktor („Pull-Faktor“) darstellen, ist allerdings umstritten. Richtig ist, dass in vielen Herkunftsländern der Flüchtlinge keine ausgebauten Sozialsysteme existieren. Somit können Sozialleistungen, die Deutschen gering erscheinen, von Flüchtlingen als durchaus beträchtlich empfunden werden. Asylsuchende ziehen eher einen Vergleich mit den Sozialleistungen ihrer Heimat als zu den Sozialleistungen, die Deutsche erhalten. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass die Sozialleistungen den entscheidenden anziehenden Faktor darstellen. Ganz im Gegenteil: Alles weist darauf hin, dass bestehende persönliche Kontakte und die zu erwartenden Chancen privater und beruflicher Art, die ein Land bietet, bei der Auswahl des Ziellandes maßgeblich sind. Dabei sind aber Flüchtlinge nicht unbedingt darüber informiert, wie die Verhältnisse im Zielland tatsächlich sind. Oftmals sind die Kenntnisse vage und beruhen auf Hörensagen. Ein Land, in dem gegenüber Geflüchteten rigide Regeln herrschen, ist unattraktiv.ii
Wenn die Flucht nicht nur in ein Nachbarland, sondern über große Entfernungen hinweg beispielsweise nach Europa erfolgt, kommt der Kettenmigration große Bedeutung zu. Kettenmigration bedeutet, dass sich zunächst Pioniere auf den Weg machen, im Zielland Schutz suchen und sich dort orientieren und niederlassen. Bei diesen Pionieren handelt es sich meist um Personen, die die Initiative ergreifen und besonders durchsetzungsstark sind. Sie sind oft jung und männlich und bilden im Zielland einen Brückenkopf, um Familie, Freunde und Landsleute nachziehen zu lassen. Die Pioniere übermitteln wichtige Informationen und knüpfen notwendige Kontakte. Sie müssen sich intensiver auf die Aufnahmegesellschaft einlassen als Gruppenwanderer, die darauf vertrauen können, im Aufnahmeland – zumindest für eine Übergangszeit – auf Netzwerke zurückgreifen zu können. Oft bilden Angehörige derselben Nationalität oder Volksgruppe Netzwerke, weshalb bei der Auswahl des Ziellandes das Vorhandensein von solchen Landsleuten ein wichtiges Kriterium darstellt.iii
Die Beanspruchung der Hilfe von Schleusern
Wer sich aus den genannten Gründen auf die weite Reise nach Europa macht, kann nicht einfach ein Flug-, Bus- oder Zugticket buchen und die notwendigen Reisedokumente wie (Transit-)Visa beschaffen, um sein Ziel zu erreichen. Flüchtlinge sind keine Reisenden und auch keine Arbeitsmigranten, sondern sie durchqueren aus der Not heraus die Länder, die auf der Reiseroute liegen, illegal. Auch versuchen sie das Territorium des Ziellandes illegal zu erreichen.
Eine illegale Reise bringt aber viele Hindernisse, Risiken und Gefahren mit sich, die ein Flüchtling auf eigene Faust, ganz ohne Hilfe kaum meistern kann. Die Helfer, die den Flüchtlingen dabei helfen, illegal die Grenzen und Territorien der Transitländer zu durchqueren und zum Zielland zu gelangen, werden als „Schlepper“ oder „Schleuser“ bezeichnet. Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass Schleuser ein sehr vielfältiges Erscheinungsbild bieten. Das sind zum einen die Freunde und Bekannten, die Hilfsleistungen anbieten, dann aber auch Volksgenossen und ehemalige Flüchtlinge, die unterstützen. Diese Personen handeln aus der Familienbande, Freundschaft und Solidarität heraus und verstehen sich als Fluchthelfer. Diejenigen, die selbst schon eine Flucht durchgemacht haben, haben zumeist Insiderwissen und können zielgerichtet alles in die Wege leiten, was für das Erreichen des Ziellandes notwendig ist. Ein Gelderwerb ist damit meist nicht beabsichtigt, sondern es wird unentgeltlich gehandelt oder nur die Erstattung von entstehenden oder entstandenen Kosten verlangt. Dann gibt es aber auch Schleuser, die ihre Dienste gewerbsmäßig anbieten und dafür oft gutes Geld verlangen. Das tun sie aber nicht unbedingt, weil sie die Flüchtlinge ausbeuten und sich arglistig bereichern wollen, sondern weil sie ihre Dienstleistungen als wertvoll ansehen. Von diesen Geschäftsleuten sind die Kriminellen zu unterscheiden, die Flüchtlinge gezielt ausbeuten und auf deren Leben keine Rücksicht nehmen. Die Schleusung zum Zweck der Ausbeutung wird als „Menschenhandel“ bezeichnet. Schleuser nimmt ein Flüchtling zwar aus der Not heraus, aber aus eigenen Stücken in Anspruch, in die Hände von Menschenhändlern gerät er unbeabsichtigt.iv
Freundschaftliche und solidarische Fluchthilfe
Bevor sich ein Flüchtling auf die weite und gefährliche Reise nach Europa begibt, benötigt er über die Reiseroute, die Transitländer und über das Zielland Informationen. Der Flüchtling informiert sich über Kosten und Risiken und erhält diese Informationen durch die Medien, sozialen Medien, aber auch durch Familienmitglieder und Bekannte, die vorher auf gleiche oder ähnliche Weise vom Herkunfts- ins Zielland geschleust wurden.
Freundschaftliche und solidarische Fluchthilfe wird auch während der Reise gewährt, indem Flüchtlinge begleitet werden, eine Rettung aus einer lebensgefährlichen Situation erfolgt und Lebensmittel, Medikamente , Kleidung und Unterkunft bereitgestellt werden. Bei dieser Fluchthilfe handelt es sich um die Unterstützung und um den Schutz des Flüchtlings. Wir haben es nicht mit Schleusung (im engeren Sinn) oder Menschenhandel zu tun, sondern um den Schutz des Flüchtlings vor Naturgewalten, Verfolgern oder Schleusern.
Der Übergang von der freundschaftlichen und solidarischen zur gewerblichen Fluchthilfe und damit zur Schleusung im engeren Sinn ist fließend. So vermieten manche Helfer als kleine Gewerbetreibende ihre Wohnungen, bieten Transporte an oder stellen Lebensmittel zur Verfügung, um damit dringend benötigte Nebeneinkünfte zu erzielen. Diese kleinen Gewerbetreibenden stellen die Verbindung zwischen den Schleusern und der örtlichen Bevölkerung dar, ohne die das Gewerbe der Schleusung nicht möglich wäre. Dabei ist davon auszugehen, dass die kleinen Gewerbetreibenden nicht in jedem Fall wissen, dass sie Bestandteil des Netzwerks von Schleusern sind.v
Schleusung als Gewerbe
Diejenigen, die Schleusung als Gewerbe betreiben, sehen in ihrer Arbeit gewöhnlich nichts Ehrenrühriges. Vielmehr verstehen sie ihr Gewerbe als wertvolle Dienstleistung, die sie sich entsprechend bezahlen lassen.
Die Gewerbetreibenden sind sehr verschiedenartig. An erster Stelle sind die Schleuser zu nennen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Migranten zu ihrer illegalen Reise vom Start- zum Zielort zu verhelfen. Dabei kann es sich um den Start- und Zielort der gesamten Reise oder einer Etappe handeln. Dabei gibt es aber noch eine große Zahl weiterer Personen, die entgeltlich Dienstleistungen anbietet und damit ganz oder teilweise den Lebensunterhalt bestreitet. Gerade in unwirtlichen Regionen, wo es kaum andere Erwerbsquellen gibt, stellen Bestechungsgelder und Einnahmen durch die Bereitstellung von Unterkünften oder Transportmitteln oder durch andere Dienstleistungen ein wichtiges wirtschaftliches Standbein eines erheblichen Teils der Bevölkerung dar.vi
Die Schleuser stecken die oftmals hohen Summen für ihre Dienstleistungen nicht gänzlich in die eigene Tasche, sondern verwenden einen erheblichen Teil des Geldes für speziell angefertigte Verstecke in Lastwagen, Autos oder Bussen, für gefälschte Pässe und Visa, für Bestechungsgelder und Transitgenehmigungen krimineller Banden. Die Preise für die Schleusung gehen jedoch oftmals über die Abdeckung der Kosten hinaus und viele Schleuser schlagen aus der Not und Verzweiflung ihrer „Kunden“ erhebliche finanzielle Vorteile. Dabei werden die Dienste oft nur für eine bestimmte Etappe angeboten. Am Ende der Etappe muss der Flüchtling neues Geld aufbringen, um die Dienstleistungen eines weiteren Schleusers für die nächste Etappe in Anspruch nehmen zu können.
Schleuser müssen Logistikexperten sein und über Einfallsreichtum, Entschlossenheit und Erfahrung verfügen. Sie müssen über eine Vielzahl an Kontakten verfüge n und wissen, welche Verwaltungsmitarbeiter bestechlich sind. Sie müssen über fundierte und aktuelle Kenntnisse verfügen und über die damit verbundenen Risiken Bescheid wissen.
Die Kosten für die gesamte Schleusung können umgerechnet Zehntausende Euro betragen. Dabei sind die Preise, die Schleuser verlangen, nicht statisch festgelegt, sondern richten sich flexibel nach verschiedenen Faktoren. Grundsätzlich gilt folgende Faustregel: Je umfangreicher die verlangte Dienstleistung ist, desto teurer ist sie. Eine große Rolle spielt die Länge der Reisestrecke, die illegal erfolgt. Ein weiterer wichtiger Preisfaktor ist auch die Mühe, die aufgewendet werden muss, um die erforderlichen (gefälschten) Reisedokumente zu beschaffen. Auch spielt eine große Rolle, welche Kosten mit der gewählten Route verbunden sind, ob ein Umweg gewählt werden muss, welche Transportmittel gewählt werden und in welchem Umfang die benötigten Transportmittel zur Verfügung stehen. Diejenigen, die weniger bezahlen können, werden größeren Risiken ausgesetzt, beispielsweise in einem überfüllten Boot unter Deck ohne Belüftung und Zugang zu Toiletten untergebracht. Frauen zahlen meist mehr als Männer, weil davon ausgegangen wird, dass sie mehr Schutz und Hilfestellung benötigen und sich langsamer fortbewegen. Wer Schleusung als Gewerbe betreibt, verhält sich wie ein Geschäftsmann: Auf der einen Seite steht das Bemühen um Gewinnmaximierung, auf der anderen das Bemühen um Kundenzufriedenheit. Nach Möglichkeit sollte der „Kunde“ sein Ziel erreichen, denn nur dann kann der Schleuser darauf hoffen, dass er ihn weiterempfiehlt. Für einen Aufschlag kann ein Schleuser auch eine „Erfolgsgarantie“ geben. Zusätzlich zu den verschiedenen genannten Aspekten, die den Umfang der verlangten Dienstleistung ausmachen, ist auch noch darauf hinzuweisen, dass der Preis auch davon abhängt, wie zahlungskräftig und wie verhandlungsgeschickt der „Kunde“ ist.
Nicht alle Flüchtlinge können die Kosten für die Schleusung selbst aufbringen. Teils wird es von Verwandten und/oder Bekannten aufgebracht, teils geliehen. Es ist auch möglich, dass ein Teil der Summe erst nach erfolgter Schleusung zu bezahlen ist. Wenn ein Flüchtling in Europa angekommen ist, kann es also sein, dass er für die Schleusung noch Schulden zu begleichen hat. Dann besteht die Gefahr, dass er diese zu begleichen sucht, indem er eine illegale Beschäftigung annimmt oder sein Geld mittels Drogenhandel oder Prostitution zu verdienen sucht.vii
Menschenschmuggel als kriminelle Machenschaft
Der Menschenschmuggel nimmt keine Rücksicht auf den Flüchtling, sondern sucht ausschließlich die Gewinnmaximierung. Der Menschenschmuggel ist eine kriminelle Machenschaft, der von schwachen oder fehlenden staatlichen Strukturen profitiert.
Im Folgenden soll am Beispiel Libyens gezeigt werden, dass der Menschenschmuggel nur ein Bestandteil eines sehr viel umfangreicheren kriminellen Schmuggels ist, der insbesondere da blüht, wo der Staat schwach ist. Libyen ist Durchgangsland zahlreicher Flüchtlinge aus den Regionen südlich der Wüste Sahara, sei es im Westen Afrikas oder im Osten Afrikas. Die Fluchtrouten erfolgen über alte Karawanen- und Schmuggelrouten, wobei der Stadt Ghat in der Sahara, die schon zu alten Zeiten ein Sklavenmarkt war, als Knotenpunkt eine besondere Rolle zukommt. Im unwirtlichen Süden Libyens, der in erster Linie aus Sanddünen und Geröll besteht, leben zwei Völker, die unter dem damaligen libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi unterdrückt wurden: die Tuareg, deren Siedlungsgebiet sich über weite Teile des Sahel erstreckt, und die Tubu, die aufgrund ihrer schwarzen Hautfarbe eher den Menschen des Sahel als den nordlibyschen Volksgruppen gleichen. Aufgrund ihrer Unterdrückung und fehlender legaler Erwerbsmöglichkeiten betätigen sich diese beiden Völker schon seit langem im Schmuggel. Ohne deren Ortskenntnisse und Logistik wäre die Durchquerung der unwirtlichen und von verschiedenen Milizengruppen beherrschten Sahara den Flüchtlingen kaum möglich. Dabei schmuggeln sie nicht nur Migranten wie die Flüchtlinge in das Land hinein, sondern auch Treibstoff und Waffen. In Nordlibyen angekommen, wird von Libyen oder Tunesien aus die Reise über das Mittelmeer nach Europa fortgesetzt. Für die Überquerung der libysch-tunesischen Grenze werden die Migranten in Lastwagen gepfercht, und zwar zusammen mit anderen Gütern, darunter insbesondere auch Treibstoff und Waffen. Dabei wird mit zwei verschiedenen Nummernschildern agiert, mit einem für Libyen und einem für Tunesien, je nachdem, auf welcher Seite der Grenze sich der Lastwagen befindet. In Tunesien angekommen, wird der Treibstoff an illegalen Tankstellen verteilt. Das Geschäft mit dem Treibstoff ist einträglich, weil er in Libyen sehr günstig ist, zumal wenn er aus illegalen Quellen auf dem Schwarzmarkt eingekauft wird. Auch bei der Überquerung des Mittelmeers wird Menschenschmuggel mit Treibstoffschmuggel verbunden, sei es, indem Migranten und Treibstoff auf demselben Schiff transportiert werden, sei es, dass die Schiffe mit den Migranten die Küstenwache ablenken, um an ihr vorbei den Treibstoff nach Italien zu schmuggeln. Die Migranten, darunter die Flüchtlinge, werden, sofern sie nicht vorher kentern und sterben, nach Lampedusa oder Sizilien gebracht oder von humanitären Organisationen oder der Küstenwache aufgegriffen und an Land gebracht. Den Treibstoff nehmen mafiöse Gruppen in Empfang, die in den Treibstoffschmuggel verwickelt sind und ihn weiter verteilen. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie aufgrund ihres verzweigten Netzwerkes auf Behörden und Regierungen erheblichen Einfluss nehmen können.viii
Wir haben uns die kriminellen Menschenschmuggler nicht als ein zentral gesteuertes Netzwerk vorzustellen, sondern auf ein miteinander verwobenes Netz von kleinen Gruppen, die jeweils auf ganz bestimmte Aufgaben spezialisiert sind. Sie können insbesondere dort ungestört arbeiten, Einfluss nehmen und Profite machen, wo die Staatsgewalt schwach oder sogar ganz abwesend ist. Beamte, Abgeordnete und Richter lassen sich leichter bestechen, es kommt zu weniger Anklagen, Prozessen und Verurteilungen. Der Staat hat wenig Einfluss und geringe Machtmittel, denn die Macht liegt bei den schmuggelnden Volksgruppen und Banden sowie bei den Milizen. Mit den hohen Gewinnen können diese schwer bewaffnet werden und als Schutzherr der kriminellen Machenschaften auftreten oder sich selbst als Schmuggler betätigen. In einem kaputten Staat, in dem die Wirtschaft am Boden liegt und es somit kaum legale Einnahmemöglichkeiten gibt, bietet die Teilhabe am Netzwerk der Schmuggler eine willkommene Möglichkeit, zu Geld zu kommen. Letztendlich haben weder die Schmuggler, noch die in den Schmuggel verwickelten Einwohner noch die Milizen noch korrupte Beamte und Abgeordnete ein wirkliches Interesse daran, dass der Schmuggel eingedämmt wird, weil sie alle Nutznießer eines korrupten und kriminellen Systems sind.ix
Visumerschleichung
Ein Weg, illegal in ein Land einzureisen, ist die Visumerschleichung. Diese steht auch Flüchtenden offen und vermag eine gefährliche Flucht durch verschiedene Länder zu vermeiden. Allerdings setzt sie genügend Zeit für die Antragstellung und das Warten, bis das Visum ausgestellt ist, voraus. Visumerschleichung kann auf vielfältige Weise erfolgen: Bei der Antragstellung können falsche Angaben gemacht oder falsche Unterlagen vorgelegt werden. Mitarbeiter in Konsulaten können sich korrumpieren lassen und falsche Angaben und Dokumente akzeptieren oder Visa trotz fehlender Zuständigkeit oder ohne Visumantrag ausstellen.
Weil die Antragstellung komplex ist, nehmen die Antragsteller oftmals professionelle Hilfe von Schleusern in Anspruch. Diese lassen sich die Schleuser jedoch gut bezahlen, weshalb sie nur für Flüchtende mit ausreichenden Geldmitteln infrage kommt.
Die Inhaber von erschlichenen Visa reisen in der Regel über einen Flughafen des ausstellenden Staates in das Gebiet der Schengen-Mitgliedsstaaten ein und von dort weiter nach Deutschland, sofern Deutschland das Zielland ist.x
Fluchtrouten
Es gibt nicht nur eine einzige Fluchtroute nach Europa, sondern es gibt verschiedene. Diese richten sich zunächst einmal nach dem Herkunftsland der Flüchtlinge, denn dieses stellt meist den Ausgangspunkt der Flucht dar. Darüber hinaus richtet sich die Fluchtroute auch nach dem Zielland, denn dieses markiert das Ende der Reise. Optimal ist es, wenn die Entfernung zwischen Herkunftsland und Zielland so gering wie möglich ist und dazu das Zielland auf direktem Wege erreicht werden kann. Allerdings ist die Kürze der Reise nicht der einzige und auch nicht unbedingt der entscheidende Faktor, denn die Wahl des Ziellandes hängt auch von bestehenden persönlichen Beziehungen, von der dort zu erwartenden sozialen Absicherung und von den Zukunftsperspektiven ab. Auch führt die Fluchtroute gewöhnlich dort entlang, wo die geringsten Hindernisse und Gefahren zu erwarten sind. Wenn sich die politischen Begebenheiten ändern, beispielsweise Visabestimmungen geändert werden, Kontrollen zu erwarten sind oder Grenzbarrieren errichtet werden, dann werden andere Fluchtrouten gewählt. Das hängt auch davon ab, was die Schleuser für Kenntnisse und Kontakte haben und wo sich die nötigen Transportmittel finden.
Ganz allgemein lassen sich folgende Fluchtrouten ausmachen: Flüchtlinge aus dem Nahen Osten wählen meist die ostmediterrane Route, die durch die Türkei hindurch über die Ägäis auf die vorgelagerten griechischen Inseln führt. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien hat diese Route an Bedeutung gewonnen. Sie hat den Vorteil, dass der zu überwindende Seeweg von der Küste der Türkei auf die vorgelagerten griechischen Inseln vergleichsweise gering ist. Die Balkanroute ist die Fortsetzung der ostmediterranen Route und führt die Flüchtlinge nach Mittel- und Westeuropa. Aufgrund der vielen zu durchquerenden Staaten sind hier die aktuellen politischen Bestimmungen und Begebenheiten für die genaue Fluchtroute besonders relevant. Besonders im öffentlichen Bewusstsein verankert ist die zentralmediterrane Route, die insbesondere von afrikanischen Migranten genutzt wird. Dies ist die Route, die am weitesten über das Mittelmeer führt, das bereits zum Grab von Tausenden schiffbrüchigen Migranten geworden ist. Hier findet in erster Linie die Seenotrettung statt. Start der Überfahrt ist meist in Tunesien oder Libyen, von wo aus es Richtung Italien und Malta geht. Für westafrikanische Flüchtlinge ist die westmediterrane Route von besonderer Bedeutung, die von Marokko oder den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla nach Spanien führt. Der Seeweg ist nur kurz und Ceuta und Melilla liegen, von marokkanischem Staatsgebiet umgeben, auf dem afrikanischen Kontinent. Sie bilden also in Afrika die einzigen Außengrenzen der EU, weshalb viele Flüchtlinge die hohen Grenzzäune zu überwinden suchen und Ceuta und Melilla immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Für westafrikanische Flüchtlinge ist die Atlantikroute von besonderem Interesse, die von Westafrika zu den nahen Kanarischen Inseln, die zu Spanien und damit zur EU gehören, führt. Die Ost-Route wird insbesondere von Flüchtlingen aus Osteuropa und Asien gewählt und führt meist über Belarus (Weißrussland), von wo aus die Einreise in die EU erfolgt. Wenn Flüchtlinge eine auf den ersten Blick abwegig erscheinende, weil einen langen Umweg darstellende Fluchtroute wählen, hat das persönliche, logistische oder politische Gründe.xi
Illegale Einreise nach Deutschland
Für eine illegale Einreise nach Deutschland ist die Inanspruchnahme der Hilfe von Schleusern vielfach entbehrlich, insbesondere dann, wenn in Deutschland die Stellung eines Asylantrags beabsichtigt ist. Deutschland verfügt über eine gut vernetzte Infrastruktur. So reicht es z. B. oftmals aus, in einem Schengen-Mitgliedsstaat eine Bahn- oder Busfahrkarte zu kaufen, um ohne Grenzkontrolle in das Bundesgebiet zu reisen. Die Geschleusten, die 2022 von den Grenzschützern festgestellt wurden, waren überwiegend zu Fuß oder im Auto unterwegs. Dass so viele Geschleuste zu Fuß unterwegs waren, weist auf sogenannte Behältnisschleusungen hin.
Bei Behältnisschleusungen werden Migranten auf Ladeflächen von Lastwagen oder Kastenwagen über die Grenze geschmuggelt, indem sie wie Waren in Behältnissen transportiert werden, die nicht für den Transport von Menschen gedacht sind. Auch werden umgebaute Autos verwendet. Die Geschleusten werden vor oder hinter der deutschen Grenze abgesetzt. Häufig werden sie dann durch sogenannte Abholer aufgenommen. Diese sind dafür verantwortlich, die Geschleusten an ihre eigentlichen Zielorte im Bundesgebiet oder in das benachbarte Ausland zu bringen. Bei Behältnisschleusungen besteht für die Geschleusten eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben: Es drohen Sauerstoffmangel, Dehydrierung durch Flüssigkeitsmangel und Unfälle, speziell bei der Flucht vor der Polizei. Besonders gefährlich ist die Schleusung unter dem Auflieger, auf einer Achse liegend.xii
i https://www.unhcr.org/dach/de/7851-warum-fluechtlinge-nach-europa-kommen.html (aufgerufen am 25.01.2024).
ii Vgl. Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag, Dokumentation, Push-und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung, WD 1 – 3000 – 027/20.
iii Vgl. Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise: Ursachen, Konflikte, Folgen, Chancen, München 2016, 110-112.
iv Vgl. Andreas Schloenhardt, Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 25 (2015), 38-43; Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise: Ursachen, Konflikte, Folgen, Chancen, München 2016, 39-44.
v Vgl. Andreas Schloenhardt, Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 25 (2015), 38-43; Stefan Goertz, Schleusungskriminalität in Verbindung zur aktuellen Flüchtlingssituation und ihren Akteuren, Die POLIZEI 108/8 (2017), 237-242.
vi Vgl. Luca Raineri: Smuggling Migrants from Africa to Europe: Threat, Resource, or Bargaining Chip, in: L. Achilli, D. Kyle [eds.], Global Human Smuggling, Baltimore, Maryland, 3. Aufl. 2023, 249-269.
vii Vgl. Andreas Schloenhardt, Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 25 (2015), 38-43; Stefan Goertz, Schleusungskriminalität in Verbindung zur aktuellen Flüchtlingssituation und ihren Akteuren, Die POLIZEI 108/8 (2017), 237-242; Kim Wilson, Financial Aspects of Clandestine Journeys: How You Pay Your Smuggler Matters, in: L. Achilli, D. Kyle [eds.], Global Human Smuggling, Baltimore, Maryland, 3. Aufl. 2023, 198-219.
viii Vgl. Javier Martín, Libye: la contrebande aux origines du chaos (1 / 2), Moyen-Orient 38 (2018), 70-75.
ix Vgl. Javier Martín, Libye: la contrebande aux origines du chaos (1 / 2), Moyen-Orient 38 (2018), 70-75; Matt Herbert: The Burners: Smuggling Networks and Maghrebi Migrants, in: L. Achilli, D. Kyle [eds.], Global Human Smuggling, Baltimore, Maryland, 3. Aufl. 2023, 220-248.
x Vgl. Schleusungskriminalität, Bundeslagebild 2022, Gemeinsames Lagebild des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei, 14-15, https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Schleusungskriminalitaet/schleusungskriminalitaet_node.html (aufgerufen am 16.02.2024).
xi Vgl. Stefan Goertz, Schleusungskriminalität in Verbindung zur aktuellen Flüchtlingssituation und ihren Akteuren, Die POLIZEI 108/8 (2017), 240; Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise: Ursachen, Konflikte, Folgen, Chancen, München 2016, 37-39.
xii Vgl. Schleusungskriminalität, Bundeslagebild 2020, Gemeinsames Lagebild des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei, 14-16; Schleusungskriminalität, Bundeslagebild 2022, Gemeinsames Lagebild des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei, 5-6; https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Schleusungskriminalitaet/schleusungskriminalitaet_node.html (aufgerufen am 16.02.2024); Ronny von Bresinski, Im Grenzgebiet: Schwerpunkteinsatz Migration, BUNDESPOLIZEI kompakt, 51/1 (2024), 8-14.