Wenn Menschen flüchten, dann versuchen Sie häufig, möglichst nahe der Heimat Schutz zu finden. So kommt es, dass die meisten Flüchtlinge aus außereuropäischen Staaten nicht nach Europa kommen, sondern in einem der Nachbarländer ihres Herkunftslandes bleiben. Das hat sicherlich im Hinblick auf die angestrebte Rückkehr in die Heimat und die persönlichen Beziehungen große Vorteile, birgt jedoch auch Probleme und Konfliktpotenzial.

Die Mehrheit (60 %) der Flüchtlinge lebt in den Städten, in Flüchtlingslagern wohnt also nur eine Minderheit. Ende 2022 lebten 6,6 Mio. Menschen in Flüchtlingslagern. Davon lebten 4,6 Mio. Flüchtlinge in Flüchtlingslagern, die vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) oder Partnerorganisationen betreut werden. 2 Mio. Flüchtlinge leben in selbstgebauten Lagern.i

Flüchtlingslager als Ort des Schutzes und der Unterstützung

Flüchtlingslager werden gebaut, um Flüchtlingen mit möglichst geringem logistischem Aufwand sofortigen Schutz und Unterstützung zu bieten. Es handelt sich um temporäre Einrichtungen, d. h. sie dienen dem vorübergehenden Schutz und der vorübergehenden Unterstützung. Eine dauerhafte Lösung können sie nicht bieten. Dennoch kann sich der Aufenthalt bei Langzeitkrisen über Jahrzehnte hinziehen, sodass die Flüchtlingslager manchmal zur Heimat ganzer Generationen von Flüchtlingen werden. Im Zuge dieser Entwicklung ändert sich meist auch die Beschaffenheit des Lagers, von der Zeltstadt zur Siedlung mit festen Gebäuden. So kann aus einem Erstaufnahme-, Auffang- oder Übergangslager eine Stadt entstehen, mit entsprechenden Infrastrukturen und Außenbeziehungen. Es entsteht das Paradox der dauerhaften Vorläufigkeit.ii

Flüchtlingslager können im Extremfall zu Großstädten heranwachsen: Das größte Flüchtlingslager der Welt ist (Stand: Dezember 2022) Kutupalong in Bangladesch. Genau genommen umfasst es ungefähr 26 einzelne Lager, in denen mehr als 640000 Rohingya untergebracht sind, davon mehr als die Hälfte Kinder. Mehr als die Hälfte der Geflüchteten sind Kinder. Bei den Rohingya handelt es sich um eine staatenlose Minderheit muslimischen Glaubens, die in Myanmar Verfolgungen ausgesetzt ist. Das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt ist Bidibidi im Nordwesten von Uganda. Dort leben derzeit ungefähr 232000 Flüchtlinge (Stand: Dezember 2020), welche größtenteils aus dem Südsudan kommen. Das drittgrößte Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, besteht aus drei Lagern, welche insgesamt 218800 Flüchtlinge (Stand: Juli 2020) beherbergen. Bei diesen handelt es sich zumeist um Somali, die vor dem Bürgerkrieg sowie vor Dürre und Hungersnot in ihrem Land geflohen sind.iii

Um Städte im eigentlichen Sinn handelt es sich bei diesen Flüchtlingslagern trotz der ausgebauten Infrastruktur, den Außenbeziehungen, der relativen Ordnung und Sicherheit jedoch nicht. Anders als in gewöhnlichen Städten, leben die Bewohner weitgehend isoliert von ihrer Umwelt. Sie sind verpflichtet, im Lager zu leben, und ihr Aufenthalt dort kann jederzeit beendet werden, wenn die internationalen Akteure die Fluchtgründe im Herkunftsland als nicht mehr gegeben ansehen. Dann wird die Unterstützung beendet und die betroffenen Bewohner müssen in ihr Herkunftsland zurückkehren. Die Bewohner der Flüchtlingslager können aufgrund dieser Unsicherheit nicht verlässlich planen.iv

Die Verwaltung der Flüchtlingslager

Eingerichtet werden Flüchtlingslager in den meisten Fällen von der Regierung des Aufnahmelandes in Zusammenarbeit mit dem UNHCR. Flüchtlingslager gehören zum Territorium des jeweiligen Gastlandes und in ihnen gilt das nationale Recht. Die Entscheidung, ob die Flüchtlinge in Lagern leben müssen oder nicht, fällt genau wie Flüchtlingsschutz und -rechte in den Verantwortungsbereich der Aufnahmestaaten, da sie sich auf ihrem Hoheitsgebiet befinden. Für die Anerkennung als Flüchtling sind insbesondere die Bestimmungen der internationalen Verträge maßgeblich, die das betreffende Gastland unterschrieben hat, wobei der weltweit wichtigste internationale Vertrag die Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen ist. Die Regierung des Gastlandes ist in den Flüchtlingslagern mit ihren Büros und Mitarbeitern präsent, außerdem für die Aufrechterhaltung der Ordnung mit Polizeikräften. Diese können neben Personal der regulären Polizei auch Einheiten der paramilitärischen (= militärähnlichen) Polizei umfassen. Letztere kann speziell in der Bekämpfung von Aufständen ausgebildet sein.

Wenn Flüchtlingsschutz und -rechte in den Verantwortungsbereich der Aufnahmestaaten fallen, dann liegt die Annahme nahe, dass diese sich auch tatsächlich um den Betrieb des betreffenden Flüchtlingslagers kümmern. Das ist gewöhnlich jedoch nicht der Fall, weil ihnen die Mittel fehlen. So werden zahlreiche Aufgaben an Organisationen übertragen, die im Flüchtlingsschutz ihre Kernkompetenzen haben. Das sind zum einen der UNHCR, zum anderen Nichtregierungsorganisationen. Der Betrieb eines Flüchtlingslagers erfolgt also in den meisten Fällen in Zusammenarbeit mit dem UNHCR, an zweiter Stelle auch mit anderen UN-Organisationen (beispielsweise mit dem Welternährungsprogramm / WFP), mit den Nichtregierungsorganisationen und mit den verschiedenen Gruppierungen der Flüchtlinge. Es ist also zwischen den rechtlichen und den tatsächlichen Hierarchien und Rechtsstellungen im Lager zu unterscheiden.

Der UNHCR schreibt in seinen generellen Richtlinien die vorrangige Zuständigkeit für die Flüchtlinge dem jeweiligen Gastland zu und sieht sich selbst in einer Kontrollfunktion. Tatsächlich hat jedoch in vielen Fällen der UNHCR aufgrund seiner personellen und finanziellen Mittel die Souveränität über die Flüchtlinge inne. Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben, sind verpflichtet, mit dem UNHCR zu kooperieren. Dieser wiederum kann auf dem Territorium eines Staates nur aktiv werden, wenn dessen Regierung es initiiert oder sich zumindest einverstanden erklärt. Auch individuelle UNHCR-Repräsentanten vor Ort können nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung ernannt werden. Der UNHCR ist für die Überwachung der Abläufe im Lager zuständig und ist an der Koordination der verschiedenen Hilfsorganisationen vor Ort beteiligt. Hinsichtlich der brisanten Frage, ob die Regierung bei der Lagerverwaltung über dem UNHCR steht oder umgekehrt, ist die treffendste Antwort wohl, dass beiden – ohne hierarchische Über- oder Unterordnung – unterschiedliche Rollen und Aufgaben zukommen.

Der Schutz der Flüchtlinge ist zwar die Aufgabe des UNHCR, jedoch führt er die einzelnen Hilfs- und Schulungsprojekte in den Lagern nicht in Eigenregie durch, sondern übergibt sie an andere Hilfsorganisationen, größtenteils an Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Die Hilfs- und Schulungsprojekte – beispielsweise in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wasser und Sanitär oder Friedenserziehung – werden dabei oft vom UNHCR mitfinanziert. Die partnerschaftliche Arbeit stellt in der humanitären Arbeit ein hoch bewertetes Prinzip dar. Gleichzeitig stehen Hilfsorganisationen zueinander in Konkurrenz und es bestehen Abhängigkeitsstrukturen. Dabei wird von den Mitarbeitern erwartet, dass sie die Interessen der eigenen Organisation vertreten. Diese Ambivalenz prägt den Lageralltag. Eine Rolle spielt auch, ob Hilfsorganisationen auf gute Zusammenarbeit mit dem UNHCR setzen oder sich als Vertretung der Flüchtlinge sehen und Konflikte mit dem UNHCR nicht scheuen.

Ein Wörtchen mitzureden haben auch die Geldgeber. Dabei handelt es sich insbesondere um Regierungsstellen einzelner Geberländer und um Hilfsfonds von Staatenverbünden wie der EU, aber auch um kirchliche und andere nichtstaatliche Geldgeber. Die Geldgeber sind zwar nur als sporadische Besucher vor Ort, aber als Orientierungsinstanz bei Entscheidungen der Lagerorganisationen immer präsent. Sie bewilligen die unterschiedlichen Projekte im Flüchtlingslager meist nur von Jahr zu Jahr, weshalb die Organisationen ihnen gegenüber unter stetem Legitimierungsdruck stehen und eine langfristige Programmplanung häufig nur schwer möglich ist.v

Unterfinanzierung des UNHCR

Der UNHCR ist notorisch unterfinanziert. Aus dem Budget der Vereinten Nationen werden nur die Verwaltungskosten des Büros des Hochkommissars gedeckt. Alle anderen finanziellen Mittel, die für die Aktivitäten des UNHCR nötig sind, müssen in Form von freiwilligen Beiträgen eingeworben werden. Der Großteil der Aktivitäten des UNHCR wird durch freiwillige Beiträge von Regierungen – Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten der zweitgrößte Geldgeber – und von der Europäischen Union (EU) finanziert, der Rest vom UN-Nothilfefonds CERF, von verschiedenen Organisationen (darunter NGOs), von Stiftungen und von privaten Geldgebern. Damit ist der UNHCR insbesondere von Geberstaaten finanziell abhängig. Der UNHCR leitet einen Teil der Gelder an die mit der Durchführung von Hilfs- und Schulprojekten beauftragten NGOs weiter.

Das Einwerben von Mitteln geschieht beim UNHCR ebenso wie bei den NGOs großenteils auf Ebene der Organisationszentralen, jedoch finden auch in den Flüchtlingslagern Kontakte mit den Geldgebern statt. Regelmäßig besuchen Delegationen von Botschaften und andere Repräsentanten der wichtigsten Geberländer die Lager und sehen sich die von ihnen ganz oder teilweise finanzierten Projekte an. Es ist nicht ungewöhnlich, dass UNHCR, NGOs und andere Organisationen, die im selben Lager tätig sind, Mittel von denselben Geldgebern erhalten, was sie in eine Konkurrenzsituation bringt.vi

Aufgrund der vielen Konflikte weltweit und der steigenden Zahl von Flüchtlingen, Binnenvertriebenen, Asylsuchenden und Staatenlosen wird es für den UNHCR immer schwieriger, die für seine Arbeit nötigen Geldmittel zu beschaffen. Unterfinanzierung hat gravierende Folgen: Die Flüchtlinge können nicht ausreichend mit wichtigen Hilfsgütern (Decken, Schlafmatten, Kochgeschirr usw.) versorgt werden, den Ärmsten kann kein Bargeld bewilligt werden, viele Flüchtlinge erhalten keine Unterstützung für Unterkünfte, es wird bei den Gesundheitsberatungen, beim Rechtsbeistand und bei der Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt gekürzt und es können weniger Kinder Schulen besuchen.vii

Flüchtlingsvertreter als Mittler zwischen Lagerverwaltung und Lagerbevölkerung

Flüchtlingslager sind von einer enormen räumlichen Distanz zwischen Flüchtlingen und Personal geprägt. Sie können eine große Ausdehnung haben, so dass sich das Personal in erster Linie mit Geländewagen über die Straßen bewegt und kaum in die Wohnquartiere der Flüchtlinge kommt. So weiß das Personal gewöhnlich wenig über den Alltag der Flüchtlinge Bescheid und die Flüchtlinge wissen nur wenig über die Hierarchie und Struktur im Lager. Zum Zwecke der Überbrückung dieser Distanz können die Flüchtlinge Vertreter wählen. Die Flüchtlingsvertreter dienen dem Informationsfluss zwischen Lagerverwaltung und Flüchtlingen. Zum einen sind sie die Ansprechpartner der Lagerverwaltung, die Informationen und Aufforderungen den Flüchtlingen übermitteln, die keinen direkten Kontakt zum Personal haben. Zum anderen sind sie aber auch Ansprechpartner der Lagerbevölkerung. Diese soll ihre Anliegen nicht direkt an die Lagerverwaltung richten, sondern auf indirektem Wege über die Flüchtlingsvertreter übermitteln. Darüber hinaus dienen die Flüchtlingsvertreter als Streitschlichter etwa bei häuslicher Gewalt oder Nachbarschaftskonflikten.

Aus Sicht des UNHCR und der Hilfsorganisationen sind Flüchtlingsvertreter deshalb vorteilhaft, weil sie die Lagerverwaltung vereinfachen und Hilfsprojekte vereinfachen. Tatsächlich können sie Anregungen einbringen; inwieweit sie bei den im Lager tätigen Organisationen Gehör finden, liegt jedoch weitgehend in deren Ermessen. Tatsächliche Entscheidungsmacht gegenüber dem Lagermanagement haben die Flüchtlingsvertreter selten.

Die Flüchtlingsvertreter sind nicht die einzigen Flüchtlinge, die als Bindeglieder zwischen den im Lager tätigen humanitären Organisationen und der dortigen Bevölkerung fungieren. Im Rahmen der Durchführung ihrer Projekte stellen die meisten NGOs Flüchtlingsmitarbeiter ein, die einen kleinen Geldbetrag erhalten. Weil die Flüchtlingsvertreter ihren Dienst ehrenamtlich verrichten, führt das zu Missstimmung und Konkurrenz.viii

In manchen Fällen bringen Flüchtlinge Strukturen aus ihren Herkunftsländern in die Lager mit – etwa, wenn politisch organisierte Gruppen gemeinsam in einem Lager untergebracht sind. Diese können gegenüber den Lagerorganisationen ihre Interessen wirkungsvoller einbringen als nicht organisierte Flüchtlinge. Möglich ist auch, dass Flüchtlingslager als Rückzugs-, Alimentierungs- und Rekrutierungsorte für bewaffnete Gruppen dienen.ix

Isolation und Gefahren in Flüchtlingslagern

Flüchtlingslager werden gewöhnlich in der Nähe von Landesgrenzen in ländlichen Gebieten eingerichtet. Die Flüchtlinge werden also von den Staatsangehörigen getrennt untergebracht und räumlich, sozial, politisch, wirtschaftlich und rechtlich abgeschottet. Aus nationalstaatlicher Perspektive dienen die Flüchtlingslager zunächst einmal der Kontrolle von geflüchteten Menschen.

Anders als man angesichts der pauschalen Bezeichnung „Flüchtling“ denken könnte, handelt es sich bei den Bewohnern der einzelnen Flüchtlingslager keineswegs um einheitliche Gruppen. Zum einen stammen sie oftmals aus unterschiedlichen Herkunftsländern und gehören verschiedenen Ethnien an; zum anderen sind sie im Hinblick auf gesellschaftliche Schichten, Berufe, persönliche Lebensläufe und Erfahrungen verschieden. Und schließlich stellen die unterschiedlichen politischen Einstellungen und die Übertragung der politischen Strukturen der Herkunftsländer in die Lager eine Herausforderung dar. Manche Geflüchtete schließen sich politischen Organisationen an, was von dem Staat, auf dem sich das jeweilige Flüchtlingslager befindet, mit Argwohn gesehen wird. Das Flüchtlingslager erscheint aus dessen Perspektive als ein Unsicherheitsfaktor, was bis hin zum Verdacht führen kann, aus ihm heraus würden Terrorangriffe geplant und durchgeführt.

Viele Flüchtlinge haben während ihrer Verfolgung, im Krieg und/oder auf der Flucht lebensgefährliche und traumatisierende Erfahrungen gemacht, womit das Flüchtlingslager zunächst einmal einen Schutzraum darstellt. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Flüchtlinge gänzlich in Sicherheit wiegen können, denn auch in den Lagern werden sie mit prekären Lebensverhältnissen und vielfältigen Gefahren konfrontiert. Zu den allgemeinen körperlichen Gefahren wie Raub und Überfälle kommen geschlechtsspezifische: Während Männer und Jungen Militarisierung und Zwangsrekrutierung in Konfliktparteien ausgesetzt sein können, leiden Frauen und Mädchen häufig unter Gewaltformen wie Vergewaltigungen, häuslicher Gewalt, Kinds- und Zwangsheirat. Eine ganz spezielle Gefahr stellen Brandstiftungen dar, die zu verheerenden Bränden führen können.x

Lagerbewohner als leidende Schutzbedürftige

Aufgrund ihres Status’ als Flüchtlinge sind die Lagerbewohner Schutzbedürftige und Leidende. Sie leben in materieller Armut, sind in ihrer Bewegungsfreiheit begrenzt und leiden unter dem Verlust der Würde. Die Lagerbewohner werden als „Verwundbare“ angesehen und sehen sich großenteils auch selbst so. Formal bezeichnet der Begriff „Verwundbare“ eine ganz besonders hilfsbedürftige Kategorie von Flüchtlingen, die Recht auf zusätzliche Nahrungsmittel, Haushaltsgegenstände und Aufmerksamkeit des Personals hat.

Die Selbstdefinition als Leidende zielt auch darauf ab, bei dem Lagerpersonal und Außenstehenden, die nur für einen kurzen Zeitraum und aufgrund eines bestimmten Zwecks ins Lager kommen, Mitgefühl hervorzurufen und so Almosen zu erheischen. Das Lagerpersonal übt seine Arbeit insbesondere aufgrund des Wunsches zu helfen aus, weshalb es durchaus die richtige Zielgruppe für dieses Ansinnen ist. Allerdings reduziert die überwältigende Anzahl leidender Menschen in den Lagern die Chance dafür, dass eine Einzelperson aus Mitgefühl oder Mitleid unterstützt wird. Noch unwahrscheinlicher wird dies durch das Misstrauen, das die Mitarbeiter den Aussagen von Flüchtlingen entgegenbringen.xi

Lagerbewohner als Handelnde

Die Lagerbewohner aber ausschließlich als Schutzbedürftige und Leidende zu betrachten, ist eine zu einseitige Sicht der Dinge. So sind die Lagerbewohner zwar in ihrer Mobilität eingeschränkt, weil sie das Lager nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfen, doch können sie sich innerhalb des Lagers weitgehend frei bewegen. Auch ist der Alltag innerhalb des Lagers kaum reguliert, so dass sie ihren Alltag relativ selbstbestimmt führen können: Sie gründen Familien, gebären Kinder, kochen, schlafen, essen, spielen, besuchen die Schule, arbeiten und gehen Freizeitbeschäftigungen nach. Die Einschränkungen im Alltag liegen nicht in einem mangelnden Freiraum, sondern in mangelnden Mitteln begründet.

Die Lagerbewohner versuchen im Rahmen ihrer sehr beschränkten Möglichkeiten auch zu arbeiten. Sie eröffnen Geschäfte, arbeiten für die im Lager tätigen Hilfsorganisationen und beackern mancherorts auch ein kleines Stück Land, das ihnen im Lager zur Verfügung gestellt wurde. Letzteres ermöglicht den Lagerbewohnern, ein Stück weit von den oft knapp bemessenen und eintönigen Essensrationen seitens der Hilfsorganisationen unabhängig zu werden. Arbeit fällt insbesondere auch dann an, wenn nach und nach die Notunterkünfte aus Zeltplanen durch Häuser in lokaler Bauweise ersetzt werden. Manche Lagerbewohner gehen auch einer illegalen Erwerbstätigkeit außerhalb des Lagers nach. Alle diese Tätigkeiten erfolgen jedoch in dem Bewusstsein, dass das Lager nur ein vorübergehender Ort ist und sie jederzeit nach Wegfall des Fluchtgrundes wieder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden können. Ein langfristiger Aufbau einer Existenz ist im Flüchtlingslager daher nicht möglich.xii

i Vgl. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/humanitaere-hilfe/fluechtlingslager (aufgerufen am 06.01.2024).

ii Vgl. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/humanitaere-hilfe/fluechtlingslager ; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/239166/fluechtlingslager/ ; https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/humanitaere-hilfe/fluechtlingslager (jeweils aufgerufen am 06.01.2024), wonach ein Flüchtlingslager durchschnittlich 12 Jahre bestehen bleibt.

iii Vgl. https://www.unrefugees.org/news/refugee-camps-explained/#Whereistheworld%E2%80%99slargestrefugeecamplocated? ; https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/humanitaere-hilfe/fluechtlingslager ; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/308437/die-fluechtlingskrise-der-rohingya/ ; https://www.unhcr.org/ke/dadaab-refugee-complex (jeweils aufgerufen am 10.01.2024).

iv Vgl. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/243366/orte-der-dauerhaften-vorlaeufigkeit-fluechtlingslager-im-globalen-sueden/#footnote-reference-7 (aufgerufen am 06.01.2024).

v Vgl. Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers: Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld 2010, 81-190. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/243366/orte-der-dauerhaften-vorlaeufigkeit-fluechtlingslager-im-globalen-sueden/#footnote-reference-7 ; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/229612/unhcr-die-fluechtlingshilfsorganisation-der-vereinten-nationen/ (jeweils aufgerufen am 06.01.2024).

vi Vgl. Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers: Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld 2010, 84-86; https://www.unhcr.org/dach/de/ueber-uns/struktur-und-finanzierung ; https://reporting.unhcr.org/global-report-2022 ; https://www.unhcr.org/dach/de/85663-unhcr-wuerdigt-deutschlands-einsatz-fuer-den-internationalen-fluechtlingsschutz.html (jeweils aufgerufen am 17.01.2024).

vii Vgl. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/aktuelles/unterfinanzierung-gefaehrdet-fluechtlingshilfe (aufgerufen am 17.01.2024).

viii Vgl. Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers: Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld 2010, 165-190.394-397.

ixVgl. Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers: Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld 2010, 271-311; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/243366/orte-der-dauerhaften-vorlaeufigkeit-fluechtlingslager-im-globalen-sueden/#footnote-reference-7 (aufgerufen am 06.01.2024).

x Vgl. Ulrike Krause, Flüchtlingslager: Im Spannungsverhältnis zwischen Schutz, Macht und Agency, in: A. Bresselau von Bressensdorf (Hrsg.), Über Grenzen: Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945, Göttingen 2019, 93-103; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/243366/orte-der-dauerhaften-vorlaeufigkeit-fluechtlingslager-im-globalen-sueden/#footnote-reference-7 (aufgerufen am 10.01.2024). Ausführlich zu den geschlechtsspezifischen Gefahren siehe Susanne Buckley-Zistel, Ulrike Krause [eds.], Gender, Violence, Refugees (Studies in forced migration 37), New York 2017.

xi Vgl. Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers: Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld 2010, 141-163.

xii Vgl. Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers: Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld 2010, 253-270.359-375.400-404; Ulrike Krause, Flüchtlingslager: Im Spannungsverhältnis zwischen Schutz, Macht und Agency, in: A. Bresselau von Bressensdorf (Hrsg.), Über Grenzen: Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945, Göttingen 2019, 98-102; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/243366/orte-der-dauerhaften-vorlaeufigkeit-fluechtlingslager-im-globalen-sueden/#footnote-reference-7 (aufgerufen am 10.01.2024).